Die Geschichte der Wenk'l Fratza

Vor Zeiten zog der Graf von Stadion mit zweien seiner Diener gen Jerusalem und weiter Richtung Osten. Zum Ende der Reise kamen sie durch einen tiefen Wald hindurch an die Mauer des Paradieses. Es gelüstet den Herren zu erfahren, wie es wohl jenseits dieser hohen Mauer aussehen möge; so hieß er den einen seiner Diener auf den Rücken des anderen und so über die Mauer zu steigen. Der treue Diener tat, wie ihm sein Herr befohlen – doch kaum auf der Mauer angekommen lacht er auf seinen Herrn herab und verschwand im Jenseits. Nun half der Graf dem zweiten seiner Dienerschaft auf die Mauer – doch auch der zweite Knecht wandte sich kurz gegen seinen unten harrenden Herrn, lachte zu ihm hinab und verschwand gleichsam. Da versuchte der Graf von Stadion selbst mit allen Kräften die Mauer zu erklimmen; aber wie er sich auch mit Händen und Füßen bemühte, es gelang ihm nicht.

Mittlerweile war es Nacht geworden und der Graf wusste weder ein noch aus. Da sah er aus dem Dickicht des Waldes ein Lichtlein scheinen, er ging ihm nach und fand eine niedrige Hütte. Er klopfte an die Tür; ein steinaltes Weiblein öffnete ein Fenster und fragte nach seinem Begehr. „Ach“, seufzte der Graf, „ich bin ein verirrter Pilger und bitte um eine Nachtherberge.“ – „Daß Gott erbarm!“ versetzte die Alte, „so wisset Ihr nicht, daß hier das Nebelmännle wohnt und das dieser, mein Gemahl, ein absonderlicher Liebhaber von Menschenfleisch ist? – Doch kommet herein, vielleicht kann ich Euch verstecken.“ Sie öffnete ihm die Türe und ließ ihn in die Stube eintreten; dann schob sie den erschrockenen Grafen unter das Bett zu den Hennen und hieß ihn dort fein stille sein.

Kaum hatte das Weiblein ausgeredet, so fuhr das Nebelmännle gar ungestüm zur Tür herein. „Weib“, sagte er „ich rieche Menschenfleisch!“ – „Ei, warum nicht gar!“ erwiderte die Alte, „Du riechst die Henne, die ich für Dich geschlachtet habe!“ – „Bah“! versetzte das Nebelmännle und schnüffelte in der Stube umher, erst hinter dem Ofen, dann unter dem Schrank und zuletzt auch unter dem Bett. „Hab ich Dich!“ rief es frohlockend aus und zog den verängstigten Grafen an einem Bein unter dem Bette hervor. „Ei der Tausend!“ stieß es hervor „das sind ja der Herr Graf von Stadion, Herr zu Warthausen und Seeherr auf dem Federsee! Will es Ihnen nit verschweigen, erlauchter Graf, die Gräfin, Euer Gemahl, wird morgen in aller Frühe mit dem Herren von Neuffen, Eurem Statthalter, vermählt. Dieweil Ihr bereits über sieben Jahr außer Landes weiltet und jetzt für verschollen und tot erklärt worden seid. – Doch einen Rat wüsste ich, heilsam für Euch und für mich! Wenn Ihr das verwünschte Nebelglöckle zu Seekirch am Federsee, mit dem sie dort gegen den Nebel läuten und mich bei jedem Zuge vor den Kopf stoßen, in die Tiefe des Sees zu versenken gelobet, dann – ja dann will ich Euch noch in dieser Nacht auf meinen Nebelwolken getreulich in die Heimat tragen – anderenfalls – Ihr wisst schon was!!“ Dem guten Grafen tat die Wahl nicht wehe. So kam er dann gerade noch zur rechten Zeit nach Hause. Als das Hochzeitspaar zur Burgkapelle schritt, da stand am Tor ein bärtiger, fremdländischer Mann. Dieser streckte der Gräfin die Hand aus, als ob er um Almosen bäte und hielt ihr das Goldringlein unter die Augen, das sie ihrem Gemahl beim Antritt seiner Pilgerreise verehrt hatte. Da sank die Braut in die Knie, denn sie hatte den Gemahl erkannt.

Der von Neuffen aber wandte sich ab und wollte fliehen. Der Graf von Stadion aber hielt ihn fest und sprach: „Mein Lieber, nachdem einmal hochzeitliche Harfen und Geigen spielen, wollten wir nit also ungerad handeln. Nimm Du unsere Tochter, die junge Gräfin, mir aber lasset meine Gemahlin.“

Das Nebelglöckle aber ließ der Graf im Federsee an der Stelle versenken, wo die Insel Bibbi oder die versunkene Stadt Alt-Buchau liegt. Zuweilen, bei heiterem Wetter, kann man das Glöckle noch heute aus der Tiefe des Sees läuten hören.